FĂŒr mich ist 2020 ein verrĂŒcktes Jahr. Nicht wegen der Corona Krise, sondern wegen der Autoimmunerkrankung Guillain-BarrĂ©-Syndrom (kurz GBS), welche im MĂ€rz diesen Jahres bei mir diagnostiziert worden ist. In diesem Blogartikel geht es (ausnahmsweise) nicht um Technik, sondern ich möchte hier ĂŒber einen persönlichen Krankheitsverlauf berichten und wie es ist, zwei Monate ans Bett gefesselt zu sein. Gleichzeitig möchte ich Betroffenen und Angehörigen Mut machen, die mit einer GBS Diagnose selbst oder im Angehörigenkreis konfrontiert sind.
KribbelgefĂŒhle, leider nicht im Bauch.
MĂ€rz 2020. Die Corona-Pandemie nimmt ihren Anfang und ich mittendrin. Kontakt zu anderen Personen vermeiden, Home Office machen, Zuhause bleiben, der eigentliche Traum eines jeden Technik-Nerds (ich mache nur SpaĂ) sollte endlich in ErfĂŒllung gehen. Trotz Pandemie habe ich meine abendlichen Laufrunden beibehalten. Eines Abends nach dem Laufen merke ich, dass etwas mit meinen FĂŒssen nicht stimmt. Ich habe ein seltsames KribbelgefĂŒhl in Zehenspitzen, das auch am Abend auf dem Sofa nicht verschwinden will. Ich als Hobbymediziner google die Symptome natĂŒrlich, wissentlich, dass am Ende sowieso Krebs raus kommt. Egal. So schlimm kann es nicht sein denke ich mir. Am besten eine Nacht drĂŒber schlafen, dann wird es bestimmt besser.
Am nĂ€chsten Tag ist dieses seltsame GefĂŒhl immer noch vorhanden, schlimmer noch, es zieht sich entlang der FuĂsohlen die Beine hoch. Immer noch das Kribbeln, jetzt kommt noch Taubheit hinzu. Am Abend merke ich, dass dieses merkwĂŒrdige Kribbeln sich ausbreitet bis zum Fussgelenk. Auch die Finger sind betroffen, zuerst der Kleine, dann der Ringfinger, dann die HandflĂ€chen. âNun gut!â, denke ich mir, âDrĂŒber schlafen, vielleicht wird es am nĂ€chsten morgen besserâ. Im Liegen wird das KribbelgefĂŒhl so unangenehm, dass ich die Bettdecke an meinen Zehenspitzen kaum noch wahrnehmen kann. Ich kriege kaum ein Auge zu und spĂŒre, dass ich langsam die Kontrolle ĂŒber meinen Körper verliere.
Am morgen danach kontaktiere ich meine HausĂ€rztin und bekomme noch am selben Tag einen Termin. Ich fahre 20 Minuten nach Hamburg Langenhorn, steige die kleinen Stufen an der EingangstĂŒr zur Praxis hinauf und bin ein wenig auĂer Atem. Beim ArztgesprĂ€ch begutachtet sie mich, ich berichte von meinen Symptomen, sie untersucht mich und kommt zu dem Entschluss, dass es sich womöglich um einen akuten, neurologischen Notfall handelt. “Sie fahren besser ins Krankenhaus”, rĂ€t sie mir und bereitet die Ăberweisung vor. Freude und Beunruhigung teilen sich gleichermaĂen mein GemĂŒt, zum Einen weil der Sache auf den Grund gegangen wird, zum Anderen wegen dem mir unbekannten Ernst der Lage. Ich folge dem Rat meiner HausĂ€rztin und fahre in die Asklepios Klinik Nord nach Langenhorn in Hamburg, aber davor noch einmal nach Hause und Sachen packen fĂŒr ein paar Tage Aufenthalt.
Daheim stopfe ich alles Notwendige in den Rucksack, bereit fĂŒr einen Wochenendaufenthalt im Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin stelle ich fest, dass ich mich nach kurzer Strecke zu FuĂ erschöpft und mĂŒde fĂŒhle. Ein 26-JĂ€hriger, schwere Beine, wackelig auf den Knien, auĂer Atem nach wenigen hundert Metern.
Auf der Suche nach den Ursachen.
Im Krankenhaus aufgenommen folgen schnell die ersten Diagnosen. Blutabnahme. EKG. Eine elektronische Untersuchung der LeitfĂ€higkeit der Nervenfasern. AnschlieĂend eine Lumbalpunktion bei der Nervenwasser aus dem RĂŒcken auf Höhe der Lende entnommen wird. Reflexuntersuchungen und MRT. Ich bin den Ărzten sehr dankbar, denn mit Hochdruck wird versucht eine Ursache fĂŒr meine Symptome zu finden. Nach kurzer Zeit gibt es eine erste Diagnose. Alles deutet auf das “Guillain BarrĂ©-Syndrom” hin attestieren die Ărzte. “Das klingt erstmal gar nicht so schlimm”, denke ich mir und bin froh, dass die ganze Sache nun endlich bei Namen genannt werden kann.
Das Syndrom, benannt nach zwei französischen Ărzten, die die Symptome erstmals 1916 schriftlich festgehalten, ist eine neurologische Erkrankung die auf einer Entmarkung von Nervenfasern beruht erzĂ€hlt man mir. Hierbei verlieren die Nervenzellen ihre isolierende Schicht, vergleichbar mit einem Stromkabel, wodurch die Nervenzelle die Funktion zur Informationsweitergabe verliert. ĂuĂern tut sich dieser Verlust durch MuskelschwĂ€che in den HĂ€nden und FĂŒĂen, die dann aufsteigt. Die Ursache ist nicht geklĂ€rt, allerdings ist ein Erkrankungsgipfel um das 25. und 60. Lebensjahr erkennbar. Es werden eine Autoimmunreaktion und neuroallergische Reaktionen auf vorangegangene Infektionen vermutet, aber eindeutige Beweise gibt es nicht.
In Deutschland erkranken rund 1500 Menschen im Jahr an der seltenen Nervenkrankheit. Es gibt unterschiedliche Verlaufsformen der Erkrankung, von leichten SchwĂ€chegefĂŒhlen bis zur vollstĂ€ndigen LĂ€hmung, wobei die Betroffenen noch bei vollem Bewusstsein sind. Es können auch die Hals- und Brustmuskeln versagen, was die FĂ€higkeit zum Atmen und Schlucken beeinflussen kann.
Ein Lottogewinn wĂ€re mir lieber gewesen. “Die Prognose fĂŒr Ihre Erkrankung ist gut, jedoch mĂŒssen sie sich auf einen lĂ€ngeren Aufenthalt einstellen. Die Symptome können sich verschlechtern und die Erholung Wochen, Monate bis Jahre dauern”, erlĂ€utern mir die Ărzte. Eine Diagnose, mit der ich nicht gerechnet habe.
Mein Körper greift sich an.
Kurz nach der Diagnose erhalte ich fĂŒnf Tage lang sogenannte Immunglobuline, Antikörper die mein fehlgeleitetes Immunsystem daran hindern sollen, weiter mein eigenes Nervensystem zu attackieren. Trotzdem merke, wie ich mich tĂ€glich schwĂ€cher fĂŒhle. Am ersten Tag der Behandlung merke ich, dass es mir schwer faellt aus dem Krankenbett in das Badezimmer zu laufen. Beim Duschen bekomme ich kaum die Arme gehoben. Nach wenigen Metern bin ich erschöpft wie nach einer Joggingrunde. Am Tag darauf kann ich kaum mehr frei durch das Zimmer laufen, muss mich an den WĂ€nden festhalten um nicht hinzufallen. Ich merke wie die Kraft schwindet und bin beim Abendbrot kaum mehr in der Lage Löffel und Gabel zu halten. Am Morgen schaffe ich es nicht mehr selbststĂ€ndig das FrĂŒhstĂŒck zu essen, selbst ein belegtes Brötchen kriege ich nicht gehoben. Innerhalb kĂŒrzester Zeit kann ich nicht mehr aus dem Bett aufstehen, nicht mal aus eigener Kraft an die Bettkante setzen. Meine Augen schlieĂen nicht mehr, die Lippen werden starr und ich verliere den Geschmackssinn. Meine Finger klappen ein und mir fehlt die Kraft mich im Bett zu drehen und die Decke oder das Kopfkissen auch nur einen Zentimeter zu bewegen.
Innerhalb weniger Tage bin ich ein Gefangener im eigenen Körper. Ich habe die Kontrolle ĂŒber die wichtigsten Muskeln verloren. Alles was mir an Bewegung bleibt ist der Kopf, den ich ein wenig hin und her bewegen kann und meine Arme, die ich ein paar Zentimeter vom Bettlaken heben kann. Dinge die vorher selbstverstĂ€ndlich waren sind nun ein Ding der Unmöglichkeit. Mein Kopf arbeitet, ich bekomme ein wenig Panik. Panik, weil ich nicht mit dieser Entwicklung gerechnet habe. Die Pflegerinnen und Pfleger kĂŒmmern sich liebevoll um mich. Physiotherapeuten bewegen meine GliedmaĂen, dehnen FĂŒĂe und HĂ€nde. Sie bekĂ€mpfen meine Nacken- und RĂŒckenschmerzen, die durch das lange Liegen entstanden sind.
Weil die Behandlung nicht anschlĂ€gt, werde ich nach Hamburg Barmbek zur weiteren Therapie auf die Stroke Unit verlegt. Ich erhalte eine sogenannte Plasmapherese oder auch BlutwĂ€sche genannt ĂŒber 14 Tage mit 6 Sitzungen. Hierbei wird versucht, die schĂ€dlichen Antikörper aus meinem Blut herauszufiltern. Die Ărzte kommen tĂ€glich und erkundigen sich nach meinem Zustand.
Die Zeit vergeht sehr langsam. Besonders an den Wochenenden und Feiertagen, an denen keine Behandlungen und Visiten durchgefĂŒhrt werden. WĂ€hrend der Corona-Krise sind Patientenbesuche im Krankenhaus verboten, weshalb mich meine Familie und Freunde nicht besuchen können. Einen Fernseher im Zimmer gibt es nicht. Ich lerne die kleinen Dinge im Leben zu SchĂ€tzen und freue mich jedes mal, wenn jemand das Zimmer betritt und sich wenn auch nur ein paar Minuten mit mir unterhĂ€lt. Um ein Buch zu halten und zu lesen bin ich zu schwach, selbst mein Handy kann ich nicht bedienen, da ich die Finger nicht bewegen kann.
Ich komme ins GrĂŒbeln und mache mir Gedanken. Wie geht es weiter mit meiner Arbeit? Werde ich meinen Abschluss machen können? Wie werde ich zukĂŒnftig meinen Alltag bewĂ€ltigen, wenn Restsymptome verbleiben? Stunden und Stunden vergehen.
Die schönste Ablenkung ist das Telefonieren. Das Schwierige hierbei ist nur, dass ich selbst keine Anrufe entgegennehmen oder tĂ€tigen kann. Ich bitte die PflegekrĂ€fte eine Nummer zu wĂ€hlen und sie legen das Telefon neben meinen Kopf auf das Kopfkissen. Ich telefoniere viel mit Freunden und tĂ€glich mit meiner Familie. Jedes GesprĂ€ch gibt mir Mut und Hoffnung, die ich merklich tĂ€glich brauche. Sie erzĂ€hlen mir was “drauĂen” passiert. Von der Corona-Krise merke ich im Krankenhaus nichts. TĂ€glich kommen Physio- und Ergotherapeuten zu mir, um meinen stark abgebauten Muskeln ein paar Impulse zu geben. Ich werde einmal am Tag an die Bettkante gesetzt, was sich wegen der MuskelverkĂŒrzung durch das viele Liegen vor Schmerzen wie ein Spagat anfĂŒhlt. Von zwei Therapeuten gestĂŒtzt, werde ich auf meine Beine gestellt. Auch das halte ich nur wenige Sekunden durch, bis mir vor Schmerzen und Anstrengung der SchweiĂ von der Stirn lĂ€uft.
Nach den ersten Plasmapherese-Sitzungen merke ich eine leichte Verbesserung. Ich kann die Finger minimal öffnen und meinen Arm auf den Oberschenkel legen. Auch die Beine kann ich im Bett wenige Zentimeter anstellen. Kurz darauf merke ich jedoch, wie die SchwĂ€che meine Beine hoch schleicht. “Das ist ein ungewöhnlicher Verlauf bei Ihnen”, attestieren mir die Ărzte. Eine Aussage, die mir nicht unbedingt Mut macht. Ich atme flacher und merke Abends, dass ich meinen Kopf kaum vom Kissen heben kann. Meine Lippen fĂŒhlen sich betĂ€ubt an und das Sprechen ist kaum möglich. Beim Abendbrot brauche ich eine Stunde, um ein belegtes Schwarzbrot zu zerkauen. Die Ărzte untersuchen mein Lungenvolumen, welches nur noch knapp zu 30% dem eines gesunden Menschen entspricht. FĂŒr die nĂ€chsten Tage werde ich sicherheitshalber auf die Intensivstation verlegt, da die LĂ€hmungen sich auf lebenswichtige Organe wie das Herz und die Lunge ausdehnen können. Ich schlafe sehr schlecht, denn die GerĂ€uschkulisse der MedizingerĂ€te, Kabel und schlĂ€uche an meinem Körper tragen nicht unbedingt zum Komfortfaktor bei. Meine Hoffnung, dass alles wieder so wird wie es mal war schwindet mit jeder Stunde. Jedoch geben mir meine Familie bei TelefongesprĂ€chen und die PflegekrĂ€fte vor Ort viel benötigte Kraft.
Weil mein Krankheitsverlauf ungewöhnlich sei und das Fortschreiten der LĂ€hmungen gestoppt werden muss, erhalte ich weitere Plasmapherese-Sitzungen und eine KortisonstoĂtherapie. Nach einigen Tagen folgt erneut eine Verbesserung meines Zustandes. Ich kann die Lippen wieder bewegen und meinen Kopf vom Kissen heben. Auch die Arme bekomme ich auf meinen Oberschenkel gelegt. Alle fĂŒnf Finger meinen linken und rechten Hand bekomme ich geöffnet, allerdings reicht es noch nicht um Dinge zu heben oder zu bedienen. Auch die Beine kann ich wieder anziehen, aber es reicht noch nicht um mich aus eigener Kraft im Bett zu drehen. Das mĂŒssen nach wie vor die PflegekrĂ€fte alle drei Stunden machen. Mit der Freude ĂŒber die Besserung bin ich noch zurĂŒckhaltend, weil die letzten Male gezeigt haben, dass die Erkrankung noch nicht ĂŒberstanden sein könnte.
Im Bett trainiere ich tĂ€glich meine kleine zurĂŒckgewonnene Bewegungskraft. Ich knete wechselseitig einen zusammengerollten Verband in der Hand und bekomme ein Bettfahrrad, mit dem ich meine Beinmuskulatur trainiere, die nach Wochen des Liegens nur noch aus Knochen bestehen. Nach wie vor ĂŒbe ich mit den Therapeuten das Sitzen an der Bettkante und das Stehen auf den eigenen Beinen. “Ich wĂŒrde mal schĂ€tzen, dass du mindestens sechs Monate brauchst um wieder ganz normal Gehen zu können nach deiner BettlĂ€gerigkeit”, prophezeit mir mein Physiotherapeut. Was zunĂ€chst demotivierend klingt, spornt mich an. Ich möchte, dass wieder alles so wird wie vorher, ohne EinschrĂ€nkungen. TĂ€glich dehne ich mich morgens, mittags und Abends im Bett und versuche die Trainingszeiten zu verlĂ€ngern. Ich merke, wie jeden Tag ein bisschen was von meiner Kraft zurĂŒckkommt. Wenn auch nur in Ameisenschritten. Aber selbst diese kleinen Schritte motivieren mich, weiter zu machen und geben mir Mut. Auch der positive Zuspruch der Therapeuten motiviert mich sehr, weiter an mir zu arbeiten.
Langsam beginnen die grauen Wolken der letzten Wochen zu verschwinden und ich werde tĂ€glich zuversichtlicher. Mittlerweile ist es Mai, fast Sommer. Ich werde von der Intensivstation wieder verlegt auf die Beobachtungsstation im Erdgeschoss des KrankenhausgebĂ€udes. Durch die Fensterscheibe meines Krankenzimmers bemerke ich, dass die BĂ€ume mittlerweile saftige, grĂŒne BlĂ€tter haben. Den MĂ€rz und April habe ich nur vom Bett aus mitbekommen. Nach Wochen sehe ich meine Eltern wieder. In das Krankenhaus können sie leider nicht, aber das sie mehrmals die Woche zu mir vor das Zimmerfenster kommen können und wir ein paar Worte wechseln ist fĂŒr mich schon das gröĂte GlĂŒck dieser Welt. Sie einfach Winken und Lachen zu sehen macht mich froh. Auch Pizza bekomme ich ins Krankenhaus geliefert von Freunden. Ich hatte schon vergessen, wie gut so eine Pizza schmecken kann! Mit meinen Fingern kann ich wieder langsam das Touchdisplay meines Smartphones bedienen. Wieder Artikel zu lesen, im Internet zu surfen, mitzubekommen was sich in der Uni getan hat, jede Kleinigkeit der wiedergewonnenen Freiheit fĂŒhlt sich einfach groĂartig an.
Es geht bergauf!
Mitte Mai werde ich zurĂŒck in das Heidberg Krankenhaus in Hamburg, Langenhorn verlegt, in die neurologische FrĂŒhreha. Insgesamt acht Wochen sind vergangen, seit ich mit KribbelgefĂŒhlen in den FĂŒĂen ins Krankenhaus gekommen bin. Acht Wochen, in denen ich nicht aus dem Bett aufstehen konnte. Insgesamt habe ich 18kg abgenommen, das meiste davon Muskelmasse.

In Millimeterschritten geht es voran. Mehrmals tĂ€glich habe ich Trainingstherapien. Ich fĂŒhle mich wie ein Kind, das alles neu lernen muss. “Wird alles wieder so wie es mal war?”, frage ich die Ărzte gefĂŒhlt bei jeder Visite. Immer wieder die Antwort: “Ja, aber Sie brauchen Geduld, sehr, sehr viel Geduld”. “Stellen Sie sich vor wie schlapp Sie sich nach einer Woche ErkĂ€ltung im Bett fĂŒhlen und wieder mit Sport anfangen”, wird mir gesagt, “Sie waren acht Wochen im Bett, das braucht Zeit!”. Geduld, die ich nicht habe aber Lernen muss. Ich erhalte weiterhin Kortison und Immunsuppressiva, die mich bis heute begleiten. Das Schlimmste ist ĂŒberstanden.
Die Therapeuten und Pfleger geben sich grosse Muehe und motivieren mich tĂ€glich bei den gnadenlos anstrengenden Sporteinheiten. In den nĂ€chsten fĂŒnf Wochen erobere ich mir in kleinen Schritten mein Leben zurĂŒck. Ich lerne, wie ich mich selber ohne Hilfe an die Bettkante setzen kann. Ich lerne das Greifen, Besteck zu halten, mir selbst die ZĂ€hne zu putzen, mich morgens und Abends selbst zu waschen und mich anzuziehen. FĂŒr gesunde Menschen scheinbar Kleinigkeiten, die fĂŒr mich die letzten Wochen unmöglich waren. Ich trainiere meine Feinmotorik mit KnetĂŒbungen und Sortieraufgaben und schreibe Tagebuch ĂŒber meinen Krankheitsverlauf. Zittrig halte ich den Stift und kritzel auf den ersten Seiten unleserliche Wörter auf das Papier. Aber tĂ€glich wird es besser.
Die nĂ€chste groĂe HĂŒrde die ich nehme, ist das selbststĂ€ndige Verlagern von der Bettkante in den Rollstuhl, in den ich zuvor nur mit Hilfe von Pflegern gelangt bin. Das nĂ€chste Highlight lĂ€sst nicht lange auf sich warten. Der erste Ausflug in die Sommersonne. Ich habe ganz vergessen wie sich die warmen Sonnenstrahlen und die leichte Brise auf der Haut anfĂŒhlen. Ich geniesse jede Sekunde die ich drauĂen sitze und das Rascheln der BlĂ€tter im Wind höre. Mittlerweile ist auch unter Auflagen wieder Besuch im Krankenhaus erlaubt. Nach Wochen sehe ich Freunde und Familie wieder. Nicht nur durch die Glasscheibe des Zimmerfensters, sondern als richtigen Krankenhausbesuch. Von der zurĂŒck erlangten Freiheit inspiriert, schiebe ich mich tĂ€glich im Rollstuhl den Krankenhausflur entlang. Jeden Tag ein StĂŒckchen weiter. Mit Hanteln mache ich GewichtsĂŒbungen im Zimmer und fĂŒhre nach wie vor eisern meine DehnĂŒbungen durch. Ich war nie gelenkig, was das ganze nicht einfacher macht.
Ich lerne das Laufen. GestĂŒtzt von Therapeuten lerne ich zunĂ€chst am Reck, schaffe 5 Meter vor und zurĂŒck, ehe ich vor Erschöpfung wieder in den Rollstuhl sinke. Jeden Tag geht es besser. Es folgt das Loslassen der HĂ€nde, die dennoch ĂŒber den StĂŒtzbalken schweben. Am Rollator laufe ich den Flur entlang. Einen Tag hin. Am anderen hin und zurĂŒck. Die Therapeuten sagen ich mache groĂe Fortschritte. Mehrmals tĂ€glich ĂŒbe ich das selbststĂ€ndige Aufstehen aus dem Rollstuhl am GelĂ€nder im Krankenhausflur.
Mir wird der Rollstuhl weggenommen. Nun heisst es nur noch am Rollator gehen. Jeder Schritt ist nach wie vor schwer wie Blei. Die vielen Meter im Rollstuhl, die ich mich vorher bewegen konnte, muss ich nun wieder zurĂŒckerobern. Doch die Beine werden jeden Tag leichter, wenn auch sehr langsam. Ich lerne das Treppensteigen. Ein wenige Zentimeter hoher Balken im Behandlungsraum gleicht anfangs einer Mount Everest Besteigung. TĂ€glich ĂŒben wir, mit jedem Tag wird klappt es besser und wir ĂŒben an nach kurzer Zeit an richtigen Treppenstufen. Mit einer Hand am TreppengelĂ€nder, mit der anderen an der meiner Therapeutin, kriege ich das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht, als ich nach vielen Tagen des Trainings selbststĂ€ndig den ersten Stock Treppenhauses der Klinik erklimme.
Jeden Abend mache ich eine kleine Spazierrunde am Rollator durch den Innenhof auf dem KrankenhausgelĂ€nde. Jeder noch so kleine Gang trĂ€gt dazu bei, dass ich am Folgetag wieder ein paar Meter mehr schaffe. Meine Beine sehen langsam wieder aus wie Beine, und ich merke tĂ€glich, dass mein Gang sicherer wird. Er ist zwar noch schlurfen und langsam und die Schwere in den Beinen hĂ€ngt nach wie vor an mir wie eine Klette, aber zumindest tragen sie mich wieder von einem Ort zum Anderen nach so langer Zeit. Im Zimmer ĂŒbe ich das freie Gehen ohne Hilfsmittel. Ich versuche wenige Meter vom Fenster aus bis zu meinem Bett zu gehen, immer und immer wieder, um mein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Auf langen Strecken hangel ich mich nach wie vor noch unsicher an der Wand entlang, jedoch gewinne ich tĂ€glich mehr Vertrauen in meinen Körper zurĂŒck.
Mitte Juni werde ich in das RehaCentrum Hamburg am UniversitĂ€tsklinikum Eppendorf verlegt. Hier beginnt die die nĂ€chste Trainingsphase. Ich erhalte tĂ€glich Ausdauertraining auf dem Laufband und Krafttraining an GerĂ€ten. In den ersten Tagen fĂŒhlt sich alles wackelig an und mir fĂ€llt es schwer mich selbstĂ€ndig in die GerĂ€te zu setzen. TĂ€glich merke ich aber dass es besser wird. Vor allem in den Beinen kommt die Kraft zurĂŒck. Wo ich vor wenigen Wochen nur 5 Kilo mit beiden Beinen bewegen konnte, Ich bin mittlerweile wieder in der Lage 30 kg zu stemmen. Alles weit entfernt von der NormalitĂ€t aber ein enormer Sprung im Vergleich zu den letzten Wochen. Ich bin motiviert weiterzumachen und meine Muskeln zu trainieren. Obwohl ich eigentlich das KrankenhausgelĂ€nde nicht verlassen darf, gehe ich einen Kilometer weiter ins Stadtzentrum von Eppendorf um mir nach Monaten mal wieder die Haare schneiden zu lassen beim Friseur. FĂŒr diesen einen Kilometer brauche ich sehr lange und muss mich zwischenzeitlich viermal hinsetzen und an eine Hauswand anlehnen um meine Beine auszuruhen. Aber es funktioniert: sie tragen mich wieder. Schwer fallen mir nach wie vor die BodenĂŒbungen auf der Matte. Ich komme kaum vom Boden wieder zurĂŒck in den Stand, besonders das Aufstehen aus der Hocke ist sehr schwierig da ich noch Gleichgewichtsprobleme habe. Mit meiner Therapeutin arbeite ich tĂ€glich und sie gibt mir Tipps wie ich die Ăbungen korrekt ausfĂŒhren kann.
Wochen vergehen und ich bin wieder in der Lage in normaler Geschwindigkeit zu gehen. Neben dem Rehazentrum befindet sich ein groĂer, weitlĂ€ufiger Park der gerne zum Joggen genutzt wird. An sonnigen Tagen ĂŒbe ich hier mit meiner Therapeutin das Laufen. Zu Beginn schaffe ich zwar nur wenige Meter, aber tĂ€glich kommt die Ausdauer zurĂŒck und die zurĂŒckgelegte Strecke lĂ€nger.
Im Park gehe ich oft mit Freunden spazieren die mich besuchen kommen. Die Besuche sind immer das schönste am ganzen Tag. Es ist einfach wunderbar wieder ein StĂŒck NormalitĂ€t zu haben, ĂŒber die alltĂ€glichen Dinge zu quatschen und das GefĂŒhl zu haben wieder am Alltag teilzunehmen. In Eppendorf gehe ich auch tĂ€glich einen Espresso trinken, ein kleines Ritual was ich mir angeeignet habe.
Am 24. Juli werde ich aus der Reha entlassen. Nach 122 Tagen Krankenhaus und darauffolgender Rehabilitation komme ich endlich wieder nach Hause. Das GefĂŒhl wieder durch die eigene HaustĂŒr zu gehen ist unbeschreiblich nach so langer Zeit. Nie zuvor war ich so glĂŒcklich wieder daheim zu sein. Die erste Nacht wieder im eigenen Bett zu schlafen und morgens aufzuwachen ohne dass eine Pflegekraft das FrĂŒhstĂŒck ins Zimmer bringt oder ein Therapeut zum Termin ruft, ist nicht in Worte zu fassen.
Was verbleibt?
Diesen Blogartikel schreibe ich nun Ende September diesen Jahres, also knapp zwei Monate nach Entlassung aus der Rehabilitation. Mittlerweile ist die NormalitĂ€t gröĂtenteils wieder zurĂŒckgekehrt. Ich habe auch wieder angefangen zu arbeiten, coronabedingt erstmal nur im Homeoffice. Ich habe mein Studium wieder aufgenommen und mache mir Gedanken ĂŒber ein Thema fĂŒr meine Masterarbeit. Ich fahre wieder mit Bus und Bahn in die Stadt, fahre Auto, ziehe mich alleine an und habe keine EinschrĂ€nkungen im Alltag.
An meiner Ausdauer muss ich nach wie vor arbeiten. Zum Beispiel fĂ€llt mir das Joggen und Treppensteigen nach wie vor etwas schwer. Zu Hause mache ich regelmĂ€Ăig MattenĂŒbungen, die mir sehr helfen. Ein paar wenige Restsymptome wie Missempfindungen in den FuĂsohlen und in den Zehenspitzen sind nach wie vor vorhanden, ebenso wie ein leichtes Zittern in den HĂ€nden, das wie eine Narbe an die schwere Krankheit vor ein paar Wochen erinnert. Alles Langzeitfolgen, mit denen ich leben kann und die mich nicht einschrĂ€nken.
Ein neues Leben.
Die Frage was den Nerven Kurzschluss bei mir ausgelöst hat ist nach wie vor ungeklĂ€rt. Manchmal rĂ€tsele ich ob es an meinem Lebensstil lag. Ich habe nicht ungesund gelebt, habe ab und an Sport getrieben und mich regelmĂ€ssig bewegt. Ich bin Nichtraucher, getrunken habe ich auch nicht. Höchstens etwas zu viel Kaffee ab und an. Wenn ich wĂŒsste woran es gelegen hat, könnte ich es Ă€ndern. Allerdings wird die Frage nach der Ursache wohl fĂŒr immer ungeklĂ€rt bleiben. Eine Antwort auf diese Frage zu finden ist mittlerweile fĂŒr mich auch nicht mehr wichtig. Mir geht es wieder gut und ich habe GlĂŒck gehabt.
Am 23. August diesen Jahres habe ich nun offiziell den ersten Geburtstag meines neuen Lebens gefeiert. Ein neues Leben, dass ich âdankâ der Erkrankung deutlich bewusster fĂŒhre.
Heute kann ich sagen, ich habe die Krankheit besiegt. Die Ărzte, die im MĂ€rz diesen Jahres die Diagnose gestellt hatten mit der Aussage, dass die Prognose bei GBS trotz des schweren Verlaufs gut sei, haben recht behalten.
Er sagt sich immer leicht, aber GBS ist eine der Erkrankungen bei denen es gilt die Hoffnung nicht verlieren! Das Erschreckende bei der Erkrankung ist der lange Zeitraum, ĂŒber die sie sich erstreckt. Ich hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken und es lĂ€sst sich nicht vermeiden, dass man ins GrĂŒbeln gerĂ€t und das Licht am Ende des Tunnels aus den Augen verliert. Besonders geholfen haben mir die Telefonate und Besuche von meiner Familie, meinen Verwandten und meinen Freunden und der wochenlange Einsatz der Ărzte, PflegekrĂ€fte und Therapeuten die trotz der stressigen Pandemiezeit im Krankenhaus mir sehr viel Kraft und Mut gegeben haben. Ich habe gelernt Hilfe zuzulassen, sowohl seelisch als auch physisch und habe ein groĂes GlĂŒck, viele liebe Menschen um mich herum zu haben, ohne deren Beistand ich die Erkrankung nicht so gut bewĂ€ltigt hĂ€tte. An dem kitschigen Spruch âLiebe kann Berge versetzenâ ist tatsĂ€chlich etwas dran. Das kann ich nun bestĂ€tigen.
Einer meiner Therapeutin sagte zu mir: âLass dich nicht unterkriegen, du bist der Chef ĂŒber deinen Körper und nicht GBS!â. Er hat recht. Auch wenn die Krankheit einen selbst zunĂ€chst zurĂŒckwirft, ist es wichtig, an den eigenen Zielen festzuhalten und sie nicht aus den Augen zu verlieren oder sogar aufzugeben. Vielleicht brauche ich nun etwas lĂ€nger sie zu erreichen oder ich muss den einen oder anderen Umweg gehen. Jedoch ist fĂŒr mich am wichtigsten, dass ich mich von der Erkrankung nicht unterkriegen lasse und mit meinem Leben genau dort weitermache, wo ich zuletzt vor einigen Monaten aufgehört habe.
Morgens wenn ich aufstehe setze ich mich ein paar Sekunden an die Bettkante und schaue, ob auch an diesem Tag meine Beine mich wieder tragen können. Eine kleine Macke, die von dem langen Krankenhausaufenthalt ĂŒbrig geblieben ist. Ich habe gelernt die kleinen Dinge im Leben mehr zu schĂ€tzen. Morgens aufzustehen und selber laufen zu können, mir selber einen Kaffee zu machen mir die ZĂ€hne zu putzen, mich anzuziehen und all die scheinbaren Kleinigkeiten, die viele Wochen nicht möglich und die jahrelang so selbstverstĂ€ndlich waren.
Ich möchte Danke sagen, an die vielen Menschen die mir in den letzten Monaten geholfen haben und sage zum Schluss nun einfach kurz und knapp: âKann wieder losgehen!â
Euer
Christian